28.05.2021 - Endspurt       

Ein sehr wichtiger Geschäftstermin hier, eine dringende private Verpflichtung dort, eine nicht freiwillige behördliche Besprechung wo auch immer. Wir bewegen uns ständig in einem System, welches geprägt ist von Kalendereinträgen und zeitlichen Abmachungen, einerseits mit Menschen aus unserem Umfeld, andererseits mit uns selber. Je wortreicher und farbiger sich unsere Agenden präsentieren, umso mehr hasten wir in diesem System umher, wenn es sein muss notfalls auch von morgens früh bis abends spät. Kann es eventuell sein, dass du diese Situation bei dir ab und zu selber beobachten kannst und zustimmend zunickst? Sehr oft setzen wir uns so einem Dauerstress aus, meinen obendrauf, dass ohne uns die Welt untergehen muss und diesem Irrglauben wird zusätzlich Öl ins Feuer geschüttet, wenn wir 5 Minuten vor dem nächsten Termin realisieren, dass wir unweigerlich zu spät kommen. Auch ein Endspurt beim ablaufenden Termin verbessert die Lage nicht wirklich, ausser dass unsere Pumpe noch mehr gefordert wird und mehr schädliche Stresshormone ausgeschüttet werden. Zumindest erhält unser Gesicht etwas Farbe, es bekommt Ähnlichkeit mit einem überdimensional grossen Radieschen, es fehlen nur noch die grünen Haare. Nun, wie toll sich ein solcher Film ansieht, lass ich mal gerne dahingestellt.
So kopfschüttelnd sich die kleinen, unbewussten, sich immer wiederholenden Endspürtlis (gibt es dieses Wort tatsächlich?) im Alltag ergeben, zeigen bewusste Endspurts auch ganz tolle Seiten unseres menschlichen Daseins auf. Zig Male darf ich anlässlich einer Laufveranstaltung schon unter dem Zielbogen einlaufen. Besonders beeindruckend bleiben mir die Erinnerungen an die legendären 100km-Läufe in Biel. Ja, kurz vor dem Ziel sind meine Beine jeweils tausendmal schwerer als noch beim Start, der Energiehaushalt stets völlig aus dem Gleichgewicht geworfen und die Sehnsucht nach der Ziellinie immer grösser als das Silvesterfeuerwerk in Sydney. Mein Kopf gleicht gedanklich einer von Hand gekneteten Teigmasse aus totaler Erschöpfung und einer Vorfreude auf ein unvergessliches Erlebnis. Und genau diese Mischung macht es aus, dass der Körper imstande ist, ungeahnte Kräfte freizusetzen. Gefühlt im Sprint laufe ich wie ein junges Reh die letzten Quartierstrassen entlang dem Ziel entgegen und fühle mich wie auf einem anderen Planeten, ich fliege auch ohne Flügel. Geschafft - mit zittrigen Beinen und mit Tränen der Freude im Ziel und erfüllt von grossem Stolz frage ich mich, wie diese letzten Meter in einem solchen Tempo möglich waren. Meine Antwort: Die Macht meiner gedachten Worte.

Dank der unzähligen Endspurt-Erfahrungen bin ich überzeugt, dass in allen Menschen viel mehr Potential steckt, als vordergründig und der Bequemlichkeit wegen geäussert wird. Aussagen wie "ich kann nicht mehr" oder "die Zitrone ist ausgedrückt" werden vielfach leichtfüssig im Kopf konstruiert und da wundert es nicht, wenn die Beine nicht mehr können. Es ist schlicht nicht möglich, mit solchen Gedanken noch Energien in die Muskeln zu pumpen. Doch wir alle können anders, wenn wir dies auch wollen. Drehen wir die Gedanken einfach locker mal um und teilen wir uns selber mit, dass ich doch noch kann und die Zitrone schliesslich noch Saft in der Schale hat, dann werden ungeahnte Energien freigesetzt. Wir dürfen deshalb eine Situation immer wieder neu beurteilen und unsere ersten Gedanken hinterfragen und uns sogar ernsthaft fragen, ob wir diese Gedanken glauben wollen. Wir alle haben es jederzeit selber in der Hand zu entscheiden, ob wir eine Ausgangslage so oder so beurteilen.