14.01.2022 - Öfters mal Rot sehen und warten
Mein Outlook-Kalender zeigt mir für den Nachmittag um 14h einen privaten Termin in Winterthur an. Aus Gründen der Bequemlichkeit und der Flexibilität, also nicht von der Vernunft getrieben, entscheide ich mich, mit dem Auto hinzufahren. Kaum biege ich auf die A1 ein, stehe ich im Stau und mit dem Suchen eines Parkplatzes in der Stadt ist auch die vermeintliche Zeitersparnis bei Auto gegen öV sicher nicht für das Auto ausgefallen. Wie ich den Motor abstelle und mich zu Fuss ins System der Stadt mache, habe ich es auch schon bereut, nicht den Bus und den Zug genommen zu haben.
Doch da ist trotzdem etwas Gutes in meinem Kopf - jede noch so kleine Situation zeigt dir etwas Positives und Sinnhaftes. Ich schlage den Bildband ein paar Minuten zurück und erinnere mich an die etwas unübersichtliche Kreuzung mit einer Ampelanlage. Diese Erinnerung ist urplötzlich zur gegenwärtigen Aktualität geworden. Wie von Geisterhand gesteuert finden die Autos, die Fahrräder und auch Fussgänger schadlos den Weg über die Strasse. Linksabbieger, Geradeausfahrer, Rechtsabbieger - alle fahren erst los, wenn die Ampel auf Grün wechselt. Im Wissen, dass Beschleunigung bei Rot mit einem gewissen Risiko einhergeht, ziehen alle das Warten vor und gewähren den Vortrittsberechtigten freie Fahrt.
Und wie ich diese Gedanken soeben niederschreibe, assoziiere ich mich umgehend mit einem früheren Urlaub und sehe mit grosser Klarheit die Bilder der Strassenkreuzungen in Saigon oder Hanoi in Vietnam. Es ist hier vor allem laut. Das anfangs erkennbare Chaos verwandelt sich immer mehr in ein funktionierendes System. Im Schritttempo, nach vielen Stop-and-Go-Einlagen und Ausweichmanövern nach links und rechts finden Autos, Busse und Mopeds ihren Weg über die Kreuzung zur nächsten Strasse. Obwohl dieses Kreuzungssystem in Vietnam Normalität ist, bevorzuge ich die Strassenordnung so wie sie in unseren Breitengraden definiert ist.
Vor Weihnachten sitze ich an einem Tisch mit mehreren Erwachsenen und wir diskutieren über verschiedene Themen, die landauf und landab für Schlagzeilen sorgen. Es fällt mir auf, dass kaum eine Person einen Gedanken zu Ende sprechen vermag. Mitten in einem Satz oder gar in einer Wortmitte werde ich vom Nebenan oder vom Vis-à-vis unterbrochen und schon strömt die andere Meinung auf mich ein. Es entsteht ein Schlagabtausch von Meinungen, Haltungen und Gegenargumenten. Das wiederum führt dazu, dass es mehr ein Gegeneinander als ein Miteinander wird. Ich frage mich innerlich, was der Wert eines persönlichen Austauschs ist, wenn sich die einzelnen Gesprächsteilnehmer permanent ins Wort fallen und nur ihre Sicht darlegen? Um wieder zurück auf die Strassenkreuzung einzubiegen, wie präsentiert sich die Situation auf der Strasse, wenn das Rotlicht nicht respektiert wird? Ja, es entsteht ein kunterbuntes Durcheinander mitten auf der Kreuzung. Die Nerven liegen blank und der Griff zur Hupe wäre nur eine Armlänge vom Fahrer entfernt. Es kommt zum Stillstand, zum Stau und hindert den Flow des Verkehrs.
Wie siehst du das: Ist es nicht viel wertschätzender, wenn wir künftig den Sprechenden aussprechen lassen, ihm interessierte Fragen stellen und wir einander so bereichern könnten? Gehen wir nicht zufriedener aus einer Diskussion, wenn wir dadurch eine andere Ansicht als Akt unserer Horizonterweiterung betrachten? Hinterlassen wir beim Gegenüber nicht viel mehr Eindruck, wenn wir unsere Wahrheit als unsere Realität sehen und ihm seine Wahrheit als seine Realität bleiben lassen?
Versetze dich also in deinen nächsten Gesprächen stets in dein Auto an der Kreuzung und rede nur dann, wenn du grünes Licht hast. Sprich erst dann, wenn die anderen Autofahrer vor dem Rotlicht zum Stehen gekommen sind und du wieder die volle Aufmerksamkeit geniessen darfst. Du wirst erkennen, dass dann ein wahres Gespräch entsteht und du sehr viel daraus mitnimmst. Warten bedeutet, jemandem Zeit und Raum zu lassen, um sich zu zeigen. Bei Rot reden heisst, dem Gegenüber keinen Respekt zu zeigen.