10.06.2022 - Die Stärke ist stärker als die Schwäche

Basel am Rheinknie mittags um 12.30 - ich nutze die Mittagspause während einer Weiterbildung für einen kurzen Spaziergang durch verschiedene Strassen und Gassen. Ich fühle mich wohl dabei, meine Beine vertreten zu können nach den vielen Sitzstunden am Vormittag. Um mich für die Stunden am Nachmittag zu stärken, geniesse ich feines Sandwich to-go im Gehen. Auf dem Weg zurück Richtung Bahnhof erkenne ich am Ende der Gasse zwei Menschen in leuchtend orangen Oberteilen. Zuerst denke ich, dass es sich um Strassenbauarbeiter handelt. Doch sie kommen mir zügigen Schrittes näher und es wird mir dabei klar, dass es zwei Läufer sind, bestimmt auf dem Weg zur Flusspromenade. Und jetzt fällt auch der Groschen, wieso sie beide in auffallenden Farben laufen. In Laufrichtung rechts läuft der sehbehinderte rund 30-jährige Mann. Mit einem kurzen Gummiband ist er verbunden mit seinem Guide, der deutlich älter erscheint. Sie sind zügig unterwegs und ich nehme wahr, wie der Sehbehinderte vom Guide immer wieder Anweisungen bekommt, wie die Laufstrecke aussieht, damit dieser sich orientieren kann. Wir begegnen uns im Bereich einer kleinen Baustelle und genau da liegt ein Wasserschlauch quer über die Strasse. Die Aussage vom Guide lautet: "Zwei Meter, Wasserschlauch, 5cm hoch!" Ich bin sehr beeindruckt von den beiden und fasziniert, wie leicht der geführte Läufer die Herausforderungen trotz Sehbehinderung und dank seinem Helfer meistert. Das ist für mich ein Bild von absolutem Vertrauen. Und schon bald entschwinden die beiden Männer meinem Blickfeld und viele Gedanken später schreibe ich diese kleine Episode, da ich darin so viele Symbole finde.

Ich versetze mich für ein paar Momente in die beiden Läufer. Der Sehbehinderte kennt seine Stärke und seine Leidenschaft, die des Laufens. Und gleichzeitig weiss er, dass es seine Stärke ohne Hilfe nicht ausleben kann. Sein Fokus hat eine einzige Richtung. Konzentration auf das, was er gut kann. Er hat eine Lösung gefunden, wie er mit seiner Sehschwäche umgehen kann. Er hätte viel einfacher den Entscheid fällen können, wegen seiner Sehbehinderung aufs Laufen zu verzichten.
Andererseits empfinde ich die Hilfsbereitschaft des Guides total vorbildlich und inspiriert mich als Coach. Mit seiner Begleitung geht es auf die Augenhöhe des Läufers rechts von ihm und passt sich seinem Tempo an. Dem Sehbehinderten ist kein Dienst erwiesen, wenn der Guide schneller oder langsamer laufen oder gar auf dienliche Anweisungen verzichten würde.

Mir geht später die Frage durch den Kopf, warum viele Menschen ihr grosses Potential nicht ausleben. Ich finde die Antwort bei meiner Beobachtung heute. Deren Fokus ist viel schneller und einfacher auf die persönlichen Schwächen gelegt und nicht wie beim Läufer auf die Stärke. Wenn der Wille gross genug ist, seine Stärke wirklich auf die Strasse zu bringen, dann finden sich Lösungen, wie mit den limitierenden Schwächen umgegangen werden kann.

Ich kenne es von mir selber nur zu gut, dass das eingeschränkte Blickfeld uns oft daran hindert, den entscheidenden Schritt nach vorne zu gehen und vor allem, nach Hilfe zu bitten. Menschen helfen gerne, das war evolutionsbedingt überlebensnotwendig und ist heute noch genauso. Andererseits ist es uns oft peinlich und wir schämen uns dafür, Hilfe anzufragen. Doch wenn dieser erste Schritt gemacht ist, dann können Berge versetzt werden und die Stärken zum Scheinen gebracht werden.

Als Coach sehe ich mich wie der Guide in der Geschichte aus Basel. Mir geht es immer drum, auf Augenhöhe mit dem Klienten zu gehen, mit Wertschätzung Fragen zu stellen und dem Klienten damit den Weg zu ebnen, dass er seine eigenen Ziele selber definieren und die Schritte dahin selber benennen kann.

Wann nimmst du gerne Hilfe an?

Wann bist du der Guide für andere Menschen?