05.08.2022 -  Das Minimum als Maximum

Es ist Samstagmorgen um 10.30h, als wir unser langes Wanderwochenende in den Bergen starten. Wir befinden uns in Vrin ganz hinten im bündnerischen Val Lumnezia und nehmen die ersten Schritte mit dem Aufstieg zum Pass Diesrut unter die Füsse. Das Auto ist in Ilanz parkiert und mit dabei haben wir lediglich einen Rucksack, gefüllt mit dem Nötigsten für gut 2 Tage. Nach 4 Stunden Wanderung erreichen wir das erste Etappenziel bei der Terrihütte auf 2170 müM. Wir sind umgeben von vielen weiteren Menschen in Wanderschuhen, die es sich wie wir bei einem frischen Getränk gemütlich machen, dazu etwas essen und die wunderbare Aussicht auf die Berglandschaft auf sich wirken lassen.

Unser Schlafplatz ist ein Massenschlagzimmer, wunderschön hergerichtet mit den weiss-rot karierten Bettanzügen. Dusche gibt es keine und wir schätzen die Einfachheit auf dieser Höhe. Und dennoch haben wir das Maximum. Tolle Menschen, beeindruckende Natur, Zeit, kein Natel-Empfang und die Freude, etwas geleistet zu haben. Hier oben sind wir alle gleich, einfach Menschen ohne Prestige-Objekte, die wir anderen zeigen können. Unsere Rucksäcke sind im Schlafsaal deponiert, das Zimmer für alle unverschlossen zugänglich. Ich hege keine Gedanken daran, dass sich jemand meinem Rucksack nähern wird. Hier oben ist Urvertrauen an der Tagesordnung. Das Abendessen wird gemeinsam mit wildfremden Menschen am selben Tisch eingenommen, alle drei Gänge aus demselben Teller. Es entstehen tolle Gespräche, über die Arbeit wird per se nicht gesprochen. Im Fokus steht vielmehr das, was uns hier oben verbindet. Das Wandern, die Natur, die Welt abseits vom Alltag.

Am nächsten Morgen brechen wir früh auf, um durch die beeindruckende Landschaft der Greina-Ebene zu wandern. Die Murmeltiere sind uns ganz nahe und faszinieren uns. Es wird uns bewusst, wie klein wir sind und dennoch immer wieder Grosses schaffen können. Die Wanderung führt uns durch ganz verschiedenartige Landschaftsformen. Obschon wir zu Fuss unterwegs sind, realisiere ich, wie schnell wir vorankommen und sich die Umgebung stets aus einer anderen Perspektive präsentiert. Nach 25 Kilometern erreichen wir das Dorf Olivone im Bleniotal des Kantons Tessin. Hier erwartet uns bei der Unterkunft eine herrlich erfrischende Dusche und ich schätze diese, wie schon lange keine Dusche mehr zuvor.

Am schweizerischen Nationalfeiertag führt unsere Reise mit dem Bus weiter auf den höchsten Punkt des Lukmanierpasses. Nach einer erneuten Wanderung gelangen wir wiederum mit dem Bus, dann der Bahn und schlussendlich mit dem eigenen Auto wieder nach Hause.

Die gut zwei Tage etwas abseits des Alltags zeigen mit schöne Dinge auf:

  • Das Leben entfaltet dann seine volle Pracht, wenn ich nicht auf Materielles angewiesen bin und ich den Fokus auf mich setze.
  • Umgeben zu sein von gleichgesinnten, ebenfalls ungeduschten Menschen, ist Energie pur.
  • Mit offenen Augen durchs Leben zu gehen, bereichert viele Momente mit ganz kleinen Begebenheiten.
  • Anzukommen ist schön, doch noch schöner ist auf dem Weg zu sein.
  • Etwas mit seinem eigenen Körper geleistet zu haben, macht einerseits müde und andererseits schenkt es unglaublich Energie.
  • Die Dinge, die wir ein allererstes Mal unternehmen, sind genau die Dinge, an die wir uns ein Leben lang zurückerinnern.
  • Das Netz und die Zuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz ist einfach weltmeisterlich.

Was will ich mit dieser kleinen Geschichte sagen?
Gelegentlich einen Schritt kürzer zu treten und damit gleichzeitig die Komfortzone etwas zu verlassen, bereichert das Leben auf wunderbare Art und Weise. Ein Tag ohne zu duschen ist heute beinahe unvorstellbar und genau deshalb so sinnerfüllt, da es plötzlich nicht mehr als selbstverständlich betrachtet wird. Sich ab und zu nur auf das absolute Minimum zu konzentrieren, lässt das Bewusstsein wachsen, was wir bereits alles haben und bringt uns zur Erkenntnis, dass wir nicht immer noch mehr brauchen, um maximal zu leben.

 

Wann hast du zum letzten Mal die Erkenntnis gewonnen, dass das Minimum das Maximum ist?