04.06.2021 - Schneeschmelze       

Mit der Wahl des Titels für die erste Lektüre im Sommermonat Juni kann mir wahrhaft etwas seltsam Anmutendes angehaftet werden, der Titel ist aus aktuellem Anlass jedoch bewusst gewählt. Auch ich verbringe meinen Montag-bis-Freitag-Alltag wie der Grossteil der Schweizer Bevölkerung mehrheitlich im Flachland und dies bevorzugt in den Höhen des Zürcher Oberlandes. In diesen Höhenlagen sind die hohen Schneemengen vom Januar innert wenigen Tagen weggeschmolzen und der Sommer hat mittlerweile Einzug gehalten. Was in dieser aktuellen Jahreszeit für manche das Freibad, der See oder sonst ein Gewässer ist, um überhitzte Körper und Gemüter abzukühlen, ist für andere Menschen eher die alpine Region der ideale Ort, um kühlere Temperaturen vorzufinden und sich daran zu erfreuen.
Genau - zurück zum aktuellen Anlass. Eine Wanderung kürzlich während den Ferien führt im Südtiroler Martelltal hinauf auf rund 2400 m.ü.M. Wie schön und gegensätzlich es hier oben ist, im Sommer in Shorts und T-Shirt durch noch riesige Schneefelder zu wandern, definiere ich als pure Lust am Leben. Hier klettert ein Eichhörnchen den Baum hoch, einige Meter weiter huschen Rehe neben uns vorbei, unzählige Bergblumen verwandeln die Landschaft in einen Teppich voller Farben. Das Auge kann unmöglich gesättigt werden von diesen abwechslungsreichen und intensiven Naturbildern. Selbst die Nase bekommt hier inmitten der Nadelwälder ein Festtagsmenü der Düfte, jeder Atemzug ist ein Erlebnis der besonderen Art und erinnert an ein heimeliges Holzhaus im tiefen Winter. Und ja, der Schnee, ja er ist noch vorhanden, teils sogar knietief, wie ich mehrfach erfahren darf und stets herzhaft drüber lachen kann. Bald wird die Sonne auch gegen diese letzten Schneefelder gewinnen und noch viel mehr Farben Platz zum Entfalten bieten. Die Natur hat sich damit wieder selber herausgeputzt für ein paar Wochen des alpinen Sommers, sie lässt Pflanzen wieder blühen, bietet den wilden Tieren reichhaltige Nahrung und erstrahlt rundum in einem neuem Gewand.

Und wie verhalten wir Menschen uns mit den steten Wechsel der Jahreszeit Entwicklung? Genau, wir wechseln die Kleider, im Winter packen wir uns dick ein und im Hochsommer würden wir am liebsten nackt durch die Welt ziehen. Soweit so gut und halbwegs vernünftig. Könnten wir die verschiedenen äusseren Einflüsse nicht auch nutzen, um in unseren Köpfen ab und zu Ordnung zu schaffen? In meinen Augen dürfen wir da getrost etwas aktiver sein. Was spricht dagegen, mit dem Frühlingserwachen auch unsere Gedanken wieder etwas mehr in Einklang zu bringen mit der Natur? Wie wäre es, einmal pro Jahr, notfalls auch öfters, kalte und eingefrorene Glaubenssätze wie den Schnee schmelzen und den Bach hinunter fliessen zu lassen? Es gibt zahllose gute Gründe, sich gelegentlich mit diesen Fragen auseinander zu setzen, am besten jedoch gleich hier und jetzt. Warum wartest du auf den richtigen Zeitpunkt, dich mit dir selber auseinander zu setzen?